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24-11-2006
Einführungsrede zur Ausstellung "Ilaria Locati: Objekte und Bilder"

"Warten darauf, bis die Menschen ihre Augen oeffnen, um die Natur zu erkennen". Diesen Satz hat die Kuenstlerin Ilaria Locati kaum sichtbar in das Holz einer Form geschnitzt, deren Identitaet wir nicht gleich erkennen. In einer Laenge von ueber einem Meter lagert das Holz auf zwei Boecken und wird von Steinmetzsaecken gestuetzt. Entstanden ist die Installation in diesem Jahr, eine neue Arbeit also, die jedoch als programmatisch fuer das Werk Ilaria Locatis gelten kann. Mit den Steinmetzsaecken verweist sie auf ihre Situation als Bildhauerin und definiert damit das Objekt als ein kuenstlerisches, ein gestaltetes. Der menschlichen Gestaltung steht die natuerliche gegenueber und die Inschrift fordert uns auf, im kuenstlerischen Objekt Natur zu erkennen. Spaetestens jetzt nimmt man die hoelzerne Form als ueberdimensionale Samenschote wahr. "L'attesa / Warten auf..." so lautet der Titel der Installation – Warten auf Erkenntnis.
Das Verhaeltnis von Natur und Kunst ist der zentrale Kern, um den alle Werke Ilaria Locatis kreisen. Sie zwingen den Blick auf atemberaubende Schoenheit natuerlicher Dinge, werfen aber auch Fragen auf nach der Kuenstlichkeit der Natur und wie natuerlich die Welt , in der wir leben, noch ist. Mittlerin in diesem Dualismus ist die Kuenstlerin selbst mit ihrem persoenlichen, intensiven Verhaeltnis zur Natur. Indem sie ihr ganzes Suchen und Forschen nach Wahrheit der Natur unterwirft, stellt sie sich und ihre Kunst in einen vielleicht natur-religioesen oder vielmehr in einen natur-philosophischen Diskurs.
Dabei gilt es zu klaeren, was mit dem Begriff Natur gemeint ist. Natur ist alles Seiende, alles Lebendige, Natur als das urspruenglich von Gott Geschaffene im Gegensatz zu dem durch die menschliche Kultur Hervorgebrachten Dinge? Ob der Mensch selbst zur Natur gehoert oder nicht, ob er als Natur-Wesen oder als Kultur-Wesen zaehlt, ist umstritten. Begreift man den Menschen und den menschlichen Geist als Teil der Natur, so werden Unterscheidungen zwischen Natur- und Kultur-Philosophie allerdings hinfaellig.
Die Installationen Ilaria Locatis verorten die Kuenstlerin jedenfalls als Natur- und Kulturmenschen. Sie setzt menschliche Existenz in Beziehung zur Natur und vermittelt uns mit ihrem kuenstlerischen Werk mystische sowie aestethische Naturerfahrung.
Ilaria Locati war schon immer stark auf die natur bezogen und seit jeher eine Sammlerin. Oder besser gesagt: eine Finderin – und der Hinweis zur Arte Povera bietet sich an. Ihr Studium an der Akademie der Bildenden Kuenste Brera in Mailand unterstreicht ihre sinnlich-haptische Praeferenz im kuenstlerischen Arbeiten. Die bei stundenlangen Spaziergaengen gesammelten Fundstuecke bewahrte sie in verschiedenen kisten auf. Eines Tages erkannte sie darin eine geradezu unbeabsichtigte Installation und entwickelòte daraus ein kuenstlerisches Konzept. Ilaria Locati sagt, sie habe sich in diesen Dingen selbst erkannt.
Seit Ende 2000 arbeitet sie nun mit Objekten und Materialien, die sie der Natur entnimmt. Sie baut gewichtige Kisten und Behaelter aus Holz, Blei, Eisen, Ton, oder Wachs und legt Tierknochen hinein, Pflanzenstuecke, Exkremente von Tieren, Federn oder von Eichhoernchen abgenagte Pinienzapfen. So sehr diese Dinge einerseits die Lebendigkeit ihres Ursprungs betonen, sosehr benennen sie andererseits ihre Vergaenglichkeit. Die Federn sind vom Vogel verloren, die abgenagten Zapfen im gebauten Bottich aus Ton, Eisen, Stroh und Wolle erinnern an ein verlassenes Nest. Die Exkremente sind verdaute Pflanzennahrung, die wieder ausgeschieden wurde, die Tiere, die ihre Knochen hinterlegten, sind verstorben. Leise und unaufdringlich bezeugen diese kleinen Objekte den grossen Kreislauf der Natur vom Werden und Vergehen und der Neuerstehung.
"Wiedergeburt" nennt Ilaria Locati die maechtigeWanne aus Bienenwachs, voll mit Steinbockkoetteln, und assoziiert analog zum Bienenstock Honig als natuerliches Produkt und Nahrung, ebenso wie Kot als naehrenden Duenger fuer das Kommende. Auch Gerueche spielen hierbei eine Rolle. Noch jetzt lassen sich der Duft des Bienenwachses und eine wuerzige Note des nach Heu riechenden Steinbockkots feststellen.
Produktion und Reproduktion sind Prozesse der Natur, die Ilaria Locati in kuenstlerischen Arbeiten wiederholt. In einem quadratischen Eisenkasten sehen wir parallel aufgereihte Geweihteile mit Goldfarbe umfasst. Sieht man genauer hin, sind es eigentlich nur zwei verschiedenen Geweihformen, die in Gips abgegossen, reproduziert und vervielfaeltigt wurden. "Das Wunder" der Fortpflanzung wird noch gesteigert, indem die Innenwaende des Eisenkastens mit Spiegeln ausgekleidet sind, in denen sich die Geweihe ins Unendliche wiederholen.
In jeder Arbeit der Bildhauerin ist ihre Achtung , ja Verehrung der Natur spuerbar. Die Kisten sind aufwaendig konzipiert und gearbeitet. Sie sind ein kostbarer Schrein, der seinen Inhalt wie eine heilige Reliquie praesentiert, diese schuetzt und fuer die Ewigkeit bewahrt. Ein geoeffneter Deckel macht deutlich, dass wir nur fuer einen voruebergehenden Moment Einblick in das wertvolle Innere haben.
"Der Schatz der Erde" zeigt einen Holzschrein, gefuellt mit Holzkohle und vergoldeten Ahornsamen. Gold wie Kohle sind Produkte der Erde, Bodenschaetze, deren Wert Ilaria Locati durch den Prozess der Vergoldung von Ahornsamen betont. Die Kuenstlerin akzentuiert dabei Gegensaetzlichkeiten von schwarzer Kohle zu gleissendem Gold, schweres Erdmaterial gegenueber leichten Samen, die wie kleine Fluegel anmuten.
Ein anderes Mal fuellt weisses Salz eine Wanne aus dunklem Eisen und kontrastiert sich verfluechtigende, aufloesende Materie des Salzes gegenueber eherner Bestaendigkeit des Eisens. Und doch hat sich schon ein Loch durch das eiserne Material gefressen.
Damit wird Natur zu einem Kultur-Objekt. Und wir muessen uns der Widerspruechlichkeit stellen, dass uns das einzelne Objekt in diesem kuenstlerischen Rahmen bedeutender erscheint als es uns in der Natur selbst, auf einem Waldweg liegend, vorgekommen waere. Dort waeren wir vermutlich achtlos voruebergegangen. Das heisst, erst mittels der Dialektik einer Umwandlung von Natur in Kultur sind wir in der Lage, den Wert und die Schoenheit der Natur wiederzuerkennen.

Verfremdung ist neben Dialektik ein weiteres kuenstlerisches Mittel, gewohnte Wahrnehmungsmuster zu irritieren un zu durchbrechen. Die Arbeiten "Gottes Traum" und "Die Samen der Wahrheit" stellen Pflanzenkapseln vor, die uns durchaus vertraut, ja "natuerlich " erscheinen. Verstoerend ist ihre ueberdimensionale Groesse von ueber einem Meter. Hier wird die Natur zum Modell, die bei ihrer Neugestaltung auch veraendert und neu interpraetiert wird.
Aus Kupfer sind die "Samen der Wahrheit" und durch den Oxidationsprozess von Gruenspan ueberzogen. Langstielige Pflanzenkapseln aus Gips stehen daneben. Bestechend in seiner vollkommenen Schoenheit ist "Gottes Traum", den Sie von der Einladungskarte kennen. Die filigrane Samenkapsel ist aus Wachs gearbeitet, und die Samenfrucht aus Kastanienholz geschnitzt, gebeizt und glaenzend poliert. Einem neugeborenen Foetus gleich, liegt die rundliche Frucht neben der Schale, der sie entfallen ist; ein weiterer Samen steckt noch prall in der Kapsel und wartet darauf, in die Welt entlassen zu werden. Diese Pflanzen sind kuenstlerische, also kuenstliche Produkte, welche jedoch die Sicht der Kuenstlerin auf die Natur zum Ausdruck bringen.
Neben den raumgreifenden Installationen widmet sich Ilaria Locati auch zweidimensionalen Materialbildern und malerischen Arbeiten. Selbstverstaendlich haben auch sie die Natur zum Thema. Schichten von Schachtelhalm und Wachs beschreiben ein Dickicht als wuerde man in einen dichten, vereisten Wald blicken. Blaue Sprengsel mit Kupfersulfat vermitteln Blicke in das Blau des "Himmels der Traeume" - so der Titel dieser Arbeit.
"Inverno" - "Winter" ist ein zweigeteiltes Materialbild betitelt. In das Grau einer Bleiplatte sind einzelne Eichenblaetter eingelassen. Korrespondierend gliedern blattlose, nackte Pflanzenstaengel die schneeweisse Gipsplatte. Kompositorisch abgestimmt ist die Eingangszeile eines Gedichts von Ilaria Locati ueber die Platten verteilt: "Giorno senza tempo, Luogo senza nome" - "An einem Tag ohne Zeit, an einem Ort ohne Namen".
In vielen Installationen arbeitet Ilaria Locati mit Schrift, die sie in Blei, Gips oder Holz einschlaegt. Die Texte sind meist von der Kuenstlerin selbst verfasst und geben tagebuchartige Sequenzen ihrer persoenlichen Naturbeobachtungen und Gedichte wieder. Sie hat dazu ein eigenes Alphabet entwickelt, das etruskische, griechische wie lateinische Buchstaben umfasst. Der Rueckgriff auf alte Schriften wirkt nicht nur geheimnisvoll, sondern zeigt an, dass auch Kultur wie die Natur Entwicklungsprozessen unterlegen ist, und mahnt, uns der kulturellen wie natuerlichen Wurzeln unseres heutigen Daseins zu besinnen. Eine weitere Klammer um Natur und Kultur sind schon die bewusst gewaehlten Titel. Sie sind poetische Huldigungen der Natur.
Fuer "Folge dem Wind" hat die Kuenstlerin eine kleinere Eisenkiste mit Blei ausgegossen und Schrift in das Blei hineingeschlagen. Wenige in der Kiste verbliebene Vogelfedern lassen an ein Treiben im Wind denken wie an den jaehrlichen Zug der Voegel: vorbestimmte Wege der Natur.
Doch auch in ihren Bildern verraet sich die Bildhauerin Ilaria Locati. Die gemalten Pflanzen - genau gesagt , es handelt sich um malerisch ueberarbeitete Siebdrucke – bersten foermlich in ihren Volumina. Statuarisch ist ihr Aufbau, der das Interesse der Kuenstlerin an einer Architektonik der vegetabilen Welt deutlich macht. Eine haptisch anmutende Oberflaechenstruktur verstaerkt ihre plastische Wirkung. Wenn der Vergleich mit einem anderen kuenstlerischen Mittel erlaubt ist , sei hier an die Pflanzenfotografien Karl Blossfeldts erinnert, der ebenfalls als Bildhauer und Modelleur begann.
Ich habe den Spaziergang durch die Ausstellung mit dem programmatischen Satz Ilaria Locatis begonnen: "Warten darau, bis die Menschen ihre Augen oeffnen, um die Natur zu erkennen". Dem Erkennen geht das Sehen zur Bewusstseinsbildung voraus. Das Sehen ist quasi ein zweites Leitmotiv Ilaria Locatis. Ihre Arbeiten fordern auf hinzusehen, auch auf die kleinsten Dinge, damit wir die Achtung vor dem grossen Wunder der Natuir , unserer eigenen Existenz und der unserer Mitmenschen nicht verlieren. Daher moechte ich als Schlusswort den Titel einer Arbeit zitieren, die heute nicht aufgebaut ist: "Io vedo" -"Ich sehe"!

Dr. Monika Jagfeld

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