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17-09-2004
Einführungsrede zur Ausstellung "Aus der Natur - Objekte und Skulpturen"

ls ich gestern ganz allein von Objekt zu Objekt durch die Ausstellung wanderte, war nicht nur die recht anstrengende Aufbauarbeit das Vortages vergessen, sondern in fortschreitender Betrachtung wähnte ich mich in einem anderen Türmle.
Hat sich hier eine Wandlung vollzogen?
Hat sich hier ein neuartiges Naturkundemuseum etabliert? Das die Biologie über die Sinne und nicht über den Verstand erklärt?
Sind hier Kulträume entstanden?
War Mutter Erde in persona anwesend, um uns mit diesen Werken
bewusst zu machen welche Schätze an Schönheit und Vergänglichkeit auch im gemeinhin Unscheinbaren auf dem Spiel stehen, wenn wir das Postulat vom „Bewahren der Schöpfung“ als unverbindliches Lippenbekenntnis missbrauchen.

Nun, was Ilaria Locati uns hier eigenhändig aufgebaut hat ist eine überzeugende Leistung. Die Platzierung und Auswahl der Exponate ist stimmig. Und das verrät schon einmal ihre ausgesprochene Fähigkeit gegebene Räumlichkeiten zu verinnerlichen und weitgehend in Einklang mit ihren eigenen Raumvorstellung zu bringen. Alles wirkt so selbstverständlich – und das ist eben – wir wissen es aus langjähriger Erfahrung – das schwerste.

Kunstakademie an der Brera, die sie mit dem Bildhauer-Diplom verließ. Nebenher besucht sie naturwissenschaftliche Vorlesungen an der Mailänder Universität. Nach dem Studium zieht sie sich zeitweise aufs Land in die Emilia-Romagna zurück. Hier empfängt sie auch jene Anregungen, die sich in ihrem Werk spiegeln. Hier findet sie auch das Material, das ihre Arbeiten so unverwechselbar machen. Hier am Fluss schaufelt sie den grauen Schwemmsand. Hier sammelt sie, wenn sommers der Fluss fast trocken fällt, die Schalen der Flusskrebse, Überbleibsel opulenter Reihermalzeiten. Hier ist sie auf Spurensuche, nimmt Gipsabdrücke von Reiherfüssen, Gräsern und Steinen. Hier list sie Federn auf, sammelt – nun nicht nur am Fluss, Steine, trockene Zapfen, abgenagt von Kleintieren, entdeckt Knochen, Gehörn und vielerlei Samenkapseln. Auch schürft sie die rotbraune Erde der Emilia-Romagna, vermischt sie mit kurzem Stroh und formt ihre Behältnisse und Erdklumpen. Sie findet verfallene Schuppen, birgt verwitterte Bohlen, rostiges Eisen, weggeworfene Behältnisse.
Wer Ilaria hier beim Abladen der gewichtigen Exponate erlebt hat, kann sich leicht vorstellen, wie sie auf Spurensuche ist. Wie sie oft nur mit blossen Händen ihr Material birgt, Gewichtiges zu ihrem Lager schleift. Aber nie mit brachialer Gewalt. Sie zerstört nicht, sie beraubt nicht die Natur. Sie nimmt nur soviel wie sie braucht, auch von dem, was im natürlichen Kreislauf von Werden und Vergehen in reichem Masse zur Verfügung steht. Was sie jedoch braucht, entnimmt sie ohne schlechtes Gewissen, denn soviel hat sie von der Natur gelernt, das paradiesische Zustände eine Utopie sind.
Die Wunder der Natur spiegeln sich geradezu in dem phantastischen Zusammenspiel der Nahrungsketten , in dieser naturgewollten Disziplin die das Gleichgewicht der Arten gewährleistet, vorausgesetzt der nimmersatte Mensch zügelt seine Begehrlichkeit.
Sicher ist es kein Zufall, das Ilaria Locati aus dem Geburtsland der Arte Povera kommt. Und dabei denken die meisten dann an Mario Merz, dem Stammvater dieser mit „armseligen bzw. einfachen Materialien arbeitenden Künstlern. Mancher mag sich an documenta-Besuche erinnern, wo mehrfach grosse Arbeiten von ihm zu sehen waren. Mario Merz baut mit einem anderen Gestaltungsprinzip. Er stellt meist die Naturmaterialien in der Kontext technoider Gegenwartsmaterialien. Da korrespondieren z.B. Reisigbündel mit farbigen Leuchtschriften oder Natursteinplatten mit Plexiglas. Derartige Materialkontraste gibt es bei Ilaria nicht, denn ihr künstlerisches Credo ist ganz anders gelagert.

Schauen wir uns die Arbeit IO VEDO, zu deutsch: ich sehe – an; die aus rotem Ton, Erde und Stroh über einem Eisenkern geformt ist. Wie überdimensionale Kerne – oder sind es knospen – wachsen diese gekneteten Naturformen aus einem Flusssandbett heraus. Die natürlichen Trockenrisse steigern den Reiz dieser Komposition, die erst im vorigen Jahr entstand und die auf mich wie die Quintessenz ihres Umgangs mit Naturprodukten wirkt. – Eine überzeugende Bodenarbeit, deren rudimentäre Materialität eine grosse Kraft ausstrahlt und all jene widerlegt, die in der Künstlerin nur eine sensibile, ästhetische Objekte produzierende Sammlerin sehen.
Natürlich ist allen Naturmaterialien ein spezifisches ästhetisches Moment eigen und die Künsler weiss dies auch zu nutzen. Deshalb stellt sich geradezu zwangsläufig die Frage, ob dieser hochästhetisches Materialeinsatz kreative Inhalte bewirkt, die den rezeptiven Betrachter hinter den „schönen Schein“, also zum Wesenhaften, zum Kern der Dinge führen.
Betrachten wir „Die Geburt der Berge“. Wie herrlich der italienische Titel: „Orogenesi“ – aber wir können uns unsere Muttersprache nicht aussuchen. „Die Geburt der Berge“, was für ein poesievoller Titel. Wieviel naturwissenschaftliches Wissen wird da unterschwellig geweckt (Plattentektonik, das eruptive Auffalten gewaltiger Gebirgsmassen, die eiszeitlichen Schotterbewegungen oder die modellierenden Kräfte der Erosionen). Ilaria hat mehrere Semester Naturwissenschaft studiert und weiß das sicher viel besser zu benennen.??? Trotzdem, mit welch lapidaren Elementen bewältigt sie dieses Thema:
Aus ihrem Lieblingsmaterial Erde und Stroh baut sie einen schmalen Kasten, den sie als Stele aufrecht plaziert. Davor genau dem Volumen des Inneren entsprechend, ordnet sie Stücke von Ophiolitgestein so an, das noch ein knappes Viertel sich im Gehäuse befindet. Damit erzeugt sie Bewegung. Das nie zur Ruhe kommende Gestein, die Verschiebung der Massen und die dadurch entstehende Leere oder Tiefe werden zum Synonym unserer Erdgeschichte. Die beiden kargen Materialien Erde und Stein (und wie vielen Verlockungen durch schönere, leuchtendere Steinen ist sie da nicht erlegen) vermitteln überzeugend das prozessuale Grundgeschehen vom Verschieben einer Masse und die sich daraus ergebenden räumlichen Veränderungen durch Entleerung und Verfüllung.
So gerät bei Ilaria Locati das urgeschichtliche Walten zu einer einprägsamen Metapher mit hohen raumplastischen Qualitäten.
Diese raumplastische Qualitäten finden wir in fast allen Werken der Künstlerin, egal ob es sich um gewichtige Holztruhen handelt, deren Deckel raumgreifend geöffnet oder spaltbreit verschlossen sind oder um rostzerfressene Tröge, die das „Salz der Erde“ oder die „Spuren der Lebens“ zum Inhalt haben. Mit archäologischer Genauigkeit fertigt sie Gipsabdrücke vom Waldboden, von Blättern und den Fußspuren einer Wildgans und birgt die so gewonnen Spuren in schweren Holzrahmen, klobigen Kästen und handgeformten Behältern aus einer Mischung aus Ton, Stroh und Wolle.
Auch hier überzeugt die Stimmigkeit der Exponate. So findet sich das Salz in einer rostzerfressenen schon durchlöcherten Lade – weil das Salz dies ja bewirkt und die vom Eichhörnchen abgenagten Pinienzapfen eben in so einem selbstgefertigten Behältnis aus Ton, Stroh und Wolle. Die Blätter und Samen des Ahorns zusammen mit Fasanenfedern birgt ein Trog aus Bienenwachs.
Viele Behältnisse sind mit einem schützenden Bleimantel überzogen.
Bleibäume nennt sie die kurzen Wurzelstücke, die sie mit diesem gewichtigen, aber äußerst geschmeidigem Metall überzogen hat und diesen damit einen wehrhaften und dauerhaften Ausdruck verleiht.
Es würde zu weit führen, wollte ich all diese transformierten Fundstücke aus dem Schoss der Natur beschreiben. Vertiefen sie sich selbst in den geheimnisvollen Spiegelkasten mit dem goldenen Gehörn oder die Schütte mit den Bleiabgüssen von Geflügelknochen, in die geheimnisvollen Schrifttafeln, die Bruchstücke der eigenen Lyrik enthalten. Aber vergessen sie dabei nicht, dass hier eine Bildhauerin am Werk ist deren Werkstoff weitgehend aus organischen Substanzen besteht, die sie mit großem Einfühlungsvermögen und respektvoller Behandlung zum Kunstwerk transformiert. Wie intensiv ihr Verhältnis zur Natur gewachsen ist, sieht mai in der wunderschönen Muschel im Dachgeschoss, die sie eigenhändig aus dem Sandstein geschlagen hat.
Lassen sie mich mit einem Zitat Künstlerin schlissen, das im zweisprachigen Katalog abgedruckt ist.
„Die Würde des Menschen besteht in erster Linie aus seiner Fähigkeit, jedes andere lebende Wesen in seiner Existenz zu respektieren. Um das Wahre zu erfahren, ist es unerlässlich, sich mit einem erneuerten Geist der Natur zu nähren... Denn nur in der Natur finden wir die wahren Werte unseres Daseins: mittels der Kunst den ewigen Kreislauf der Natur auszudrücken, das Schöne zum Ausdruck zu bringen, sich zunutze zu machen und vorzuzeigen. Denn die Wahrheit der realen Welt ist nichts andere als die Welt der Natur selbst“.

Dem ist wohl nichts mehr hinzuzufügen.
Ich danke für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einfühlsame Momente vor den Werken von Ilaria Locati, deren Ausstellung hiermit eröffnet ist.

Franklin Pühn

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